Offener Brief der Gewerkschaft vida an Bundesminister Dr. Hattmannsdorfer

Wien (OTS) – Sehr geehrter Herr Bundesminister Dr. Hattmannsdorfer,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 15. Oktober 2025, in dem Sie
auf unsere dringende Aufforderung zur Wahrnehmung Ihrer
Aufsichtspflicht über die Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ)
geantwortet haben.

Wir nehmen Ihr Angebot, uns gemeinsam mit der Wirtschaftskammer
Österreich auszutauschen, sehr gerne an. Allerdings muss die Agenda
dieses Gesprächs über die Verengung auf den Sozialbetrug hinausgehen.
Ein fairer und ehrlicher Austausch über die Belastung unseres
Sozialstaates muss alle relevanten Schadensursachen einschließen –
insbesondere jene, die den Staatshaushalt tatsächlich in
Milliardenhöhe belasten.

Wir müssen über die großen Löcher sprechen, nicht nur über die
kleinen.

Die notwendige Agenda: Milliarden-Schäden nach der Schwere
abhandeln und dann natürlich auch Sozialbetrug

So lange Steuerhinterziehung, Lohnraub, Korruption und
Postenschacher in Österreich zum Alltag gehören, ist die Forderung
nach Lohnzurückhaltung allein eine Verhöhnung der hart arbeitenden
Menschen in diesem Land.

Während Sie in Ihrem Schreiben zu Recht betonen, dass
Sozialbetrug eine Belastung darstellt, lenkt diese Fokussierung von
den weitaus größeren Missständen ab, die unser Land finanziell und
moralisch untergraben:

1. Steuerhinterziehung: Laut Berechnungen kostet uns
Steuerhinterziehung jedes Jahr 13 Milliarden Euro , die dem Staat für
Bildung, Pflege oder das Klima fehlen.

2. Lohnraub: Durch unbezahlte Mehr- und Überstunden, die sogenannte
„Lohnraub“-Delikte darstellen, entgingen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern sowie dem Staat im Jahr 2024 rund 2,3 Milliarden Euro .

3. Korruption und Postenschacher: Der volkswirtschaftliche Schaden
durch Korruption in Österreich wurde für das Jahr 2021 auf über 15
Milliarden Euro geschätzt. Allein die Ära eines einzigen ÖBAG-Chefs
kostete die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler mutmaßlich mindestens
1,5 Milliarden Euro.

Zum Vergleich: Der von der Task Force des Innenministeriums 2024
aufgeklärte Schaden durch Sozialleistungsbetrug lag bei mehr als 23
Millionen Euro .

Wir können nicht akzeptieren, dass eine gesetzliche
Interessensvertretung wie die WKÖ die Debatte durch die vorsätzliche
Verwendung von Falschzahlen – sie hat die Gesamtkosten aller
Krankenstände von 8,5 Mrd. Euro als Schaden durch Missbrauch
ausgegeben – in eine Richtung lenkt, die Arbeitnehmer pauschal
diskreditiert.

Die Pflicht zur Gesetzmäßigkeit und Wahrhaftigkeit

Sie lehnen ein aufsichtsbehördliches Verfahren ab, weil Sie im
Versenden einer wahrheitswidrigen Pressemitteilung keine Verletzung
der Aufgaben der WKÖ erkennen können.

Wir sind jedoch der festen Überzeugung, dass die vorsätzliche
oder grob fahrlässige Verbreitung unwahrer Tatsachen durch eine
Körperschaft öffentlichen Rechts die Pflicht zur gesetzmäßigen
Geschäftsführung nach §136 WKG verletzt. Wahrhaftigkeit ist eine
Grundvoraussetzung für die Glaubwürdigkeit des gesamten
Kammersystems.

Besonders besorgniserregend ist, dass führende Repräsentanten der
WKÖ dieser Wahrhaftigkeitspflicht nicht nachkommen. Dies erinnert an
die Aussage, die in den Akten rund um den ehemaligen
Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka (ÖVP) bekannt wurde, wonach
dieser „mit der Wahrheitspflicht per se ein Problem“ habe. Die
Glaubwürdigkeit der ÖVP-nahen Kammerorganisationen leidet massiv
unter solchen Praktiken.

Wir hoffen, dass Sie zumindest gegenüber dem Parlament
klarstellen, ob Sie die bewusste Verwendung von Gesamtkosten als
Missbrauchsschaden für eine Verletzung der Pflicht zur gesetzmäßigen
Geschäftsführung halten und welche Konsequenzen Sie bei einer
Feststellung gedenken zu ziehen. Wir verweisen auf die diesbezügliche
Parlamentarische Anfrage der Abgeordneten Götze, Schallmeiner,
Freundinnen und Freunde vom 16. Oktober 2025 (Nummer 3688/J XXVIII.
GP), die Ihnen bereits zugegangen ist.

Wir freuen uns auf einen Termin, um über die tatsächlichen
Milliarden-Schäden in Österreich zu sprechen.

Mit freundlichen Grüßen,
Roman Hebenstreit Vorsitzender der Gewerkschaft vida

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